Kaines Träume – Diskriminierung
Das Geräusch des Regens erfüllte das Dorf.
Die steilen Klippen, die die Gegend umgaben, verstärkten das Geräusch, so dass selbst der leichteste Nieselregen wie ein Gewitter klang. Dünne Rauchschwaden stiegen aus den Hütten auf, während die Dorfbewohner es sich in ihren Häusern gemütlich machten und den Regen abwarteten.
Ein einzelnes Kind jedoch trotzte dem Regenguss und wanderte nun langsam in Richtung des hölzernen Wetterhahns in Form eines Adlers im Zentrum der Stadt. Der Wanderer erreichte den Wetterhahn, der bereits seit ewigen Zeiten existierte, und starte ihn an. Das Gesicht des Kindes war zart und grimmig zugleich. Diese Gesichtszüge, in Verbindung mit einer blassen weißen Haut, verleihten dem Gesicht ein nahezu geschlechtsloses Aussehen.
Wenn sich der Schnabel nach Osten dreht, gehe ich heim. Wenn er sich nach Westen dreht, dann… Dann… Das Kind blinzelte. Der Regen tropfte ihm langsam über die kurzen Haare und begann seinen langen Abstieg zum Boden.
Komm schon. Komm schon! Das Kind spürte eine leichte Brise und sah zu, wie der Wetterhahn langsam zum Leben erwachte. Nachdem er sich einen Moment lang in verschiedene Richtungen gedreht hatte, zeigte sein Schnabel schließlich fest nach Osten. Nach Osten?… Wirklich?
Ehe sich der Wetterhahn erneut bewegen konnte, kam ein kantiger Stein durch die Luft geflogen und traf das Kind am Kopf. Die Wucht des Aufschlags warf das Kind zu Boden, während ein Hagel von Steinen um es herum niederging. Oh nein. Sie haben mich gefunden…
Ein herzzereißendes Lächeln überkam das Gesicht des Kindes, während weiterhin Steine flogen. Durch den Regen konnte man den Klang zahlreicher Fußstapfen lauter werden hören, ehe eine Stimme erklang. „Ju-huu! Kaine!“ Die Stimme gehörte Dimo, dem schlimmsten Tyrannen von Adlerhorst.
Als Kaine versuchte aufzustehen, kam ein letzter Stein durch den Matsch geflogen und schlug gegen ihren Fuß. Blut triefte aus einer Wunde über ihrem Auge und vernebelte ihre Sicht, aber sie konnte die Umrisse von Dimo und seiner üblen Bande von Idioten erkennen. Der Junge schien angesichts des Blutes für einen Moment aus der Fassung gebracht worden zu sein, spielte dann aber schnell wieder den Draufgänger.
„Was ist los, Freak? Magst du den Regen? Magst du es, ganz nass zu werden? Oder hast du dich endlich entschieden, von zu Hause wegzulaufen?“
Obwohl sie wusste, dass es vergeblich sein würde, wandte sich Kaine ab, um zu gehen. Bevor sie mehr als ein paar Schritte zurücklegen konnte, wurde sie von den anderen Kindern umzingelt, deren Augen von Grausamkeit erfüllt waren.
Fassade ist die einzige Stadt, wo Kaine geduldet wird.
Kaine wusste, dass dies nicht die einzigen Augen waren, die auf ihr ruhten; die Eltern der Quälgeister schauten aus der Sicherheit ihrer Häuser zu. Sie war an diesen Umstand gewöhnt, da sie ihn schon viele Male zuvor erlebt hat. Während manche Dorfbewohner die Taten ihrer Kinder einfach ignorierten, ermutigten andere sie ganz offen. In einer Gesellschaft, die von Aberglaube und Furcht geprägt war, war Kaine etwas, dass man hassen, und wenn möglich zerstören sollte.
„Ich habe nicht gesagt, dass du gehen kannst, Freak.“ Dimos Worte fraßen sich durch sie wie ein Wurm durch einen Apfel. Er kann mir nicht wehtun, log sie sich selber vor. Sei stark. Sei mutig. Er kann mir nicht wehtun. Er kann mir nicht wehtun. Er kann mir nicht…
„Oh seht mal! Der kleine Freak weint! Was ist los? Bist du traurig, dass alle dich hassen und tot sehen wollen?“ Kaine betete, dass der Regen sie fortspülte aus einer Welt, in der es keinen Platz für sie zu geben schien. Aber wenn es Götter gegeben hätte, dann zögen sie es vor, sie zu ignorieren. Als Dimo sich näherte, lockerten sich die Wolken auf und der Regen ließ nach.
Sogar das Wetter hasst mich. Ich bin nutzlos. Ein Fehlschlag. …Ich wünschte, Dimos Stein hätte meinen Kopf abgeschlagen. Kaine konnte Dimos schielenden Blick nicht ertragen; sie senkte ihre Augen und starrte auf den schlammigen Boden unter ihr. Der Tyrann trat vor, bis er nur noch wenige Zentimeter von ihr entfernt war. Sie konnte den Geruch von alten Fleisch in seinem Atem wahrnehmen.
Der Junge griff Kaines Gesicht mit seinen dicken Fingern und zerrte es nach oben. Sie versuchte sich abzuwenden, aber er zwang ihren Blick zurück und drückte seinen Daumen gegen ihr Augenlied, um es aufzuhalten. „Du bist ein Freak.“ „… N- Nein. Bin ich nicht.“
„Hast du grad, Nein“ gesagt?“ Dimo grinste diabolisch. Du sagst nicht, Nein zu mir. Niemand sagt, Nein zu mir.“ Ohne seine Aufmerksamkeit von Kaine zu nehmen, rief er seiner Bande zu: „Kommt schon, Jungs! Lasst uns dem Freak geben, was er verdient.“
Kaum hatte Dimo fertig gesprochen, begannen Tritte und Schläge über Kaine hereinzubrechen. Dimo machte eine Pause, noch immer grinsend, während Kaine sich krümmte und versuchte, die Schmerzen zu lindern. „Ich verstehe dich nicht, Freak. Warum benimmst du dich wie ein Mädchen, hä? Jeder weiß doch, was du wirklich bist!“
Kaine ignorierte die Frage und entschied sich stattdessen, den Wetterhahn anzustarren. Er zeigte noch immer nach Osten, als wäre er äußerst zuversichtlich was die Zukunft anging, die er für sie gewählt hatte. Nach Hause gehen? Ja, das ist ein lustiger Witz für jemanden, dessen Eltern tot sind und der kein Zuhause hat, zu dem er gehen könnte. „Freak!“, skandierten die Kinder. „Freak, Freak, Freak!!“
Kaine schloß die Augen und lauschte dem Regen, während sie auf den erneuten Beginn der Schmerzen wartete. Als die Hände der Dorfkinder sie ergriffen, flüchtete sie sich im Geiste in den Klang des Regens und ließ diesen allein zu ihrer Welt werden.
Der Regen fiel… Aber der Schmerz kam nicht. Erst als das Gelächter ihrer Peiniger in ängstliche Schreie umschlug, wagte sie es, ein blutverkrustetes Augen zu öffnen. Kaine war schockiert, Dimo am Boden zu sehen, während dieser sich den Kopf hielt und vor Schmerzen schrie. Sie konnte sehen, wie das Blut durch seine fetten, perversen Finger quoll.
Oh mein Gott. Er weint. Er WEINT tatsächlich! Ihres Führers beraubt, schauten sich die anderen Kinder abwechselnd an, als würden sie darauf warten, dass jemand hervorträte, um die Führung zu übernehmen. Als sich kein Retter hervortat, begannen sie einen unbehaglichen Rückzug von Kaine.
Aber das junge Mädchen war ihre geringste Sorge. Stattdessen galt ihre Aufmerksamkeit einer alten Frau, die nur ein paar Meter entfernt stand. Nachdem diese einen Moment lang nach Luft rang, sprach sie schließlich mit zorniger Stimme.
„Tut verdammt weh, nicht wahr?! Nun schlage ich vor, du verziehst dich, bevor ich noch einen werfe. Und wenn einer von euch kleinen Bastarden jemals wieder meine Kaine anfasst, dann werde ich weit Schlimmeres tun als einen Stein zu werfen! Darauf könnt ihr euch verlassen.“ Die alte Frau hockte sich hin und berührte sanft die Hand, mit der Dimo seine Wunde bedeckte. Bevor er auch nur daran denken konnte, zu protestieren, drückte sie ihre Handfläche in die Wunde und drehte sie hin und her.
„Au“, schrie er und sprang auf. „Hör auf! Was tust du da?“ „Hör auf zu flennen! Es ist noch nie jemand an einem Kratzer gestorben.“ „Du hast mich mit einem Stein getroffen, du dumme Schlampe! Mit einem großen! Das Ding hätte mich töten können!“ Die alte Frau zuckte mit den Schultern. „Der Tod ist das beste Heilmittel gegen Dummheit.“
Bei diesen Worten verzog sich Dimos Gesicht vor Wut. Ohne seine Augen von Kaine zu nehmen, trat er einen Schritt zurück und spuckte auf den Boden. „Verschwindet! Verlasst dieses Dorf! Niemand will euch hier haben, keinen von Euch!“ Als die alte Frau einen weiteren Stein ergriff, gaben Dimo und seine Gefährten Fersengeld. Während sie flohen, legte die alte Frau die Hände auf ihre Hüfte und lachte herzhaft. „Ha! Sieh sie dir an, wie der fette Junge läuft! Nehme an, er ist gesund genug, um vor einem Kampf zu fliehen.“
Das Lächeln der Frau verging, als sie ihre Aufmerksamkeit auf Kaine richtete. Sie kniete nieder, zog ihren Umhang aus und legte ihn dem jungen Mädchen um die Schultern. Dann zog sie ein Stück Stoff aus ihrem Kleid hervor und begann, ihr das Blut von der Stirn zu wischen. „Oh, Kaine“, sagte sie. „Warum hast du dich nicht gewehrt? Du bist stärker als diese Bande.“
Die Worte ihrer Großmutter schmerzten ihr und sie wandte sich ab. „Sei nicht so nett zu mir“, sagte sie. „Ich verdiene es nicht. Nichts… Nichts ist mehr von Bedeutung.“
Ihre Tränen, die sie so lange zurückgehalten hatte, begannen schließlich auf den matschigen Untergrund zu fallen. „Alle h – hassen mich. Sie denken, ich verursache schlimme Dinge. Sie denken, ich sei ein Freak. Ich wünschte, ich wäre tot.“
Als Kaines Tränen zu einem Schluchzen wurden, verspürte sie die Hände ihrer Großmutter auf ihren Schultern. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters und ihrer winzigen Größe, besaß die Frau eine erstaunliche Kraft, und Kaine war nicht in der Lage, sich abzuwenden.
„Sprich nicht so Kaine! Es ist ein breiter und tiefer Fluß, der zwischen dieser Welt und der nächsten fließt, und er gewährt niemandem, der ihn zu überqueren sucht, Gnade. Du hast die Pflicht, bis zum letzten Atemzug zu kämpfen. …Verstanden?“ Die alte Frau verstärkte ihren Griff und versuchte, das zittern in ihrer Stimme zu beruhigen. „Du kennst den Schmerz, jemanden zu verlieren, der dir nahe steht, Kaine. Du kennst ihn, weil du ihn überlebt hast.“
Bei diesen Worten wurde Kaine von ihrer Liebe zu dieser alten Frau erfasst. Als kleines Kind wusste sie nicht einmal von der Existenz ihrer Großmutter, aber als ihre Eltern starben, akzeptierte die Frau sie schnell als Familie. Großmutter, wie Kaine sie nannte, war durchtrieben, vulgär und griff schnell zur Gewalt. Ihre ersten gemeinsamen Jahre waren nicht einfach gewesen. Aber mit jedem Jahr, das verging, kamen sich Kaine und ihre Großmutter näher.
Aber erst jetzt, im Schlamm sitzend und mit Blut und Tränen im Gesicht, begriff sie das wahre Ausmaß ihrer Zuneigung. Hier war eine Frau, die harte Zeiten erlebt hat; die dem Tod ins Auge geblickt hat; die sich durch all diese Dinge gekämpft und es irgendwie auf die andere Seite geschafft hat. Wenn irgendjemand Kaines Schmerz und Einsamkeit verstehen könnte, dann war sie es.
„Mache… Mache ich dich krank, Großmutter?“ „Natürlich nicht! Red keinen Unsinn!“
Kaine legte sich den von Motten zerfressenen Umhang ihrer Großmutter um den Körper und zitterte. „Aber… mein Körper. Er… Er ist nicht normal. Wenn ich normal wäre, dann würden Mama und Papa nicht…“ „Still“, unterbrach die Großmutter. „Ich werde mir kein weiteres Wort von diesem Unsinn anhören. Du bist meine Enkelin und ich liebe dich, und wenn die Leute ein Problem damit haben, dann können sie zur Hölle fahren.“
Die alte Dame streckte sich und steckte ein kleines weißes Objekt in Kaines Haar. Die Fertigkeit, mit der die Blumen gebogen worden waren, ohne den Stamm zu zerbrechen oder eine der Blüten zu verlieren, war erstaunlich, und die Schönheit dieses Anblicks brachte Kaine dazu, erneut in Tränen ausbrechen zu wollen. „Ach du meine Güte! Das sind Mondtränen! Großmutter, hast du dies für mich gemacht?“
Mondtränen waren legendäre Blumen; die meisten Menschen würden sie in ihrem ganzen Leben nicht zu Gesicht bekommen. Und dennoch hatte ihre Großmutter es irgendwie geschafft, ein Dutzend davon zu sammeln.
Kaine streckte ihre Hand nach oben und berührte den Kranz, als könne sie nicht glauben, dass er echt sei. „W – Wo hast du sie gefunden?“
„Ach, weißt du… Ich bin eines Tages beim Einkaufen einfach so über sie gestolpert.“ Die alte Frau wandte sich bei dieser Erklärung ab, was Kaine dazu veranlasste, zu vermuten, dass die Suche wesentlich schwieriger war, als sie zugab.
Die Mühen, die sie auf sich genommen hatte, um dieses Schmuckstück herzustellen – ganz zu Schweigen vom Aufspüren der darin verwendeten Blumen – ließ Kaines Herz schmerzen. Sie griff nach oben und rückte den Kranz zurecht, während sie fasziniert davon war, wie dieser sich zwischen ihren Fingern anfühlte.
„Ist nicht ganz richtig geworden“, sagte ihre Großmutter, als sie darauf schielte. „Diese alten Hände tun sich schwer mit filigraner Arbeit. Aber an einem hübschen Mädchen wie dir sieht er toll aus.“
Kaine errötete und wandte sich ab. „Du… Du denkst, ich bin hübsch?“ „Natürlich bist du du das! Wie kannst du nur so etwas Dummes sagen.“ „Da – Danke schön, Großmutter.“ Ihre Großmutter lächelte. „Wir kommen schon zurecht, du und ich“, sagte sie. „Solange wir uns beide haben, kann uns nichts passieren.“
Kaine ergriff die Hand ihrer Großmutter und die beiden versuchten, wieder aufzustehen. Während sie den langen Heimweg antraten, hielt Kaine die Hand mit aller Kraft fest, als wolle sie Rauch davon abhalten, vom Winde verweht zu werden.
Der Regen hatte aufgehört. Kaine stand neben dem Wetterhahn, der sich nun gemächlich im Wind drehte, ohne sich über die Richtung, in die er beim Anhalten blickte, zu sorgen. Ich muss nicht fliehen. Ich habe jetzt ein Zuhause. Großmutter liebt mich und das reicht. Es sind wir gegen den Rest der Welt.
Kaine ließ ihren Blick über den Hahn in den bewölkten Himmel schweifen. Die letzten schwachen Spuren eines Regenbogens verschwanden langsam. Als sie sich umdrehte, um nach Hause zu gehen, zerstreute sich das Licht in eine Million Teilchen und verschwand, als ob es vom Winde verweht worden wäre.